Institute for Digital Business

Privacy Paradoxon

Mai 6, 2020

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Aus dem Unterricht des CAS Digital Ethics (Modul Privatsphäre) mit Dozentin Sarah Genner berichtet Christian Knuchel:

Im Rahmen des CAS Digital Ethics der HWZ hatten wir die grossartige Möglichkeit uns zusammen mit der Top-Referentin Dr. Sarah Genner dem Thema Privatsphäre zu widmen. Mit Fakten und Erkenntnissen aus ihrer Dissertation ON|OFF– Risks and Rewards of the Anytime-Anywhere Internet wurde unser Unterricht aussagekräftig unterstützt. Wir haben ein Verständnis aufgebaut, was Privatsphäre umfasst. Im Verlauf des Vormittags lernten wir, welchen Privatsphären-Typ wir entsprechen.

Privatsphäre – geschützt, geteilt, verkauft

In der Einführung tauchten wir virtuell in die Schwerpunkte der vergangenen Ausstellung Privatsphäre – geschützt, geteilt, verkauft im Zürcher Stadthaus ein. Diese entstand in Zusammenarbeit mit dem Collegium Helveticum. Sarah Genner könnte in Anlehnung an die Literatur hier die Frage gestellt haben: Na, wie steht es um die eigene Privatsphäre? Diese Frage wurde in der Aufstellung aufgenommen.

Geruchssinn für Internetzugang

Ergebnis aus einer Umfrage im Connected World Technology Report 2014

Das Ergebnis aus einer Umfrage von 3000 Berufstätigen im Connected World Technology Report 2014 lässt aufhorchen. Die Bedeutung der Digitalisierung greift weit in die menschliche Lebensweise und -bereiche ein. Internet of Things, Smart City, Wearables und vernetzte Kinderspielsachen sind heute Realität. Spionage und Cyber-Kriminalität ist in einer Welt, die «always on» ist und wo das «always sharing data» stattfindet, eine zu beachtende Tatsache.

So richtig offline? Geht nicht mehr

Exponenten wie Kurt Opsahl, Bruce Schneier und Laura Poitras kämpfen um Transparenz und warnen von den negativen Aspekten dieser neuen Welt. Was ist, wenn die «Falschen» unsere Daten die Hände bekommen? Wie weit geht Überwachung und ist die «always-on»-Welt das wert? Heute gibt es bereits Reaktionen der Menschen auf diese Entwicklungen. Post-Privacy, Data Detox, Surveillance Defense und Digital Detox tönen noch ungewohnt. Doch dürften diese Aspekte künftig an Bedeutung gewinnen.
Um hier ein eigenes Verständnis und Massnahmen zu definieren, kann die ON|OFF-Skala von Sarah Genner gut eingesetzt werden. Mir hilft es mein Bewusstsein zu schärfen, um für mich ein gesundes Mass zwischen Hypervernetzung und komplettes offline-sein zu finden. Als Fazit nehmen wir mit: So richtig offline geht heute gar nicht mehr.

Privatsphäre ist ein Menschenrecht. Und manchmal notwendig, um der Konformität und bestimmten Erwartungen entkommen zu können. Zahlreiche Bücher und Artikel sagen voraus, dass die bisherigen Entwicklungen zum Ende der Privatsphäre führen könnten. Wie gehen wir damit um? Ein lustiges und doch nachdenklich stimmendes Bild wird hier gemalt.

Warum ist Privatsphäre nicht immer wichtig?

Wir sind uns bewusst, dass Privatsphäre wichtig wäre. Doch scheint dies kein Automatismus zu sein. Hier sehen wir ein Paradoxon, das wir im Verlauf des Unterrichts näher diskutierten. Ist es schlicht Faulheit, die uns befällt? Katie Swisher, Technologie-Journalistin, meinte dazu: «As much as I know about tech, I’m often lazy and use its tools without care, even as each day seems to bring new headlines about privacy incursions.»

Mögliche Gründe, wieso im Alltag die Privatsphäre nicht wichtig genommen wird

  1. Überforderung: Es wären 76 Tage nötig, um alle Datenschutzbestimmungen zu lesen, die einem jährlich vorgelegt werden.
  2. Resignation: Die Grösse und Macht der Tech-Giganten scheint so gewaltig, dass man nichts dagegen tun kann, seine Privatsphäre zu schützen.
  3. Sehen und gesehen werden: Das Selbstverständnis heute hat sich gewandelt. «Branding yourself as a Business of One» ist eine Tatsache, der man sich schwer entziehen kann.
  4. «Ich habe nichts zu verbergen»: Diese Aussage kann heute und jetzt stimmen. Würden wir 20 Jahre später das gleiche sagen? Jugendsünden sind im Netz gespeichert – diese könnten Jahre später sich negativ auswirken. Ein Datenverlust im Moment des Geschehens muss nicht zwingend sofort ein Problem bilden. Das kann sich Jahre später unter anderen Umständen ändern. Die Daten, die da noch vorhanden sind, könnten ethisch falsch wiederverwendet werden.
  5. Datenwert wird unterschätzt: Was heute mit Daten alles möglich ist und welche Informationen daraus abgeleitet werden können, wird aus Unwissenheit unterschätzt.
  6. Keine aktuelle Bedrohung: In einem Experiment der Stanford University wurde festgestellt: Studentinnen und Studenten ist Pizza wichtiger als Privatsphäre. Der Deal: eine gratis Pizza gegen drei E-Mailadressen von Freunden. Eine «überwältigende Mehrheit» der Studierenden entschied sich für die Pizza. In der Diskussion stellen wir fest: Wenn man Daten bekommen will, muss man es gut begründen – dann sind die Leute bereit die Daten herauszugeben.
  7. Netzwerkeffekte: In der Digitalisierung gibt es vor allem Monopol-Plattformen. Da fast alle Nutzer damit arbeiten entstehen Netzwerkeffekte. Es gibt eine Faustregel: 95% sind entweder zu beschäftigt oder überfordert ihre Privatsphären-Einstellungen zu managen. Dies führt auch dazu, dass niemand die Plattformen wechseln will. Wenn viele Menschen nur einen bestimmten Service nutzen, dann ist es für die Einzelperson schwierig, diesen zu wechseln.

Haben wir heute weniger Privatsphäre als früher?

Mit Blick in die Geschichte stellen wir fest, dass es früher Fichen-Skandale in der Schweiz gab. Heute kommt zum Beispiel ein Überwachungsskandal wie Crypto-Leaks immer noch vor, welcher die Privatsphäre tangiert. Das Schützen der Privatsphäre wird je nach Zeitepoche, Einflüsse, kulturelles Verständnis und politische Entwicklungen teilweise unterschiedlich gehandhabt. Die angeregten Gruppendiskussionen ergaben, dass es heute nicht weniger Privatsphäre als früher gibt:

  • Die soziale Kontrolle im kleineren Umfeld hat abgenommen was dem Einzelnen mehr Freiheit gibt.
  • Der Wohlstand schafft mehr Privatsphäre. Die Privatsphäre ist heute teilweise noch eine «Schichtfrage» (Bürger:innen, Arbeiter:innen, Oberschicht). Für die einen ist es möglich die Privatsphäre zu gestalten – für die anderen nicht.

Vor wem ist die eigene Privatsphäre am wichtigsten?

Es ist immer ein Abwägen und eine Frage der Bequemlichkeit. Wir werden angreifbar(er) und erpressbar(er), wenn wir zu viel Informationen preisgeben. Wir wollen unsere Privatsphäre schützen vor Arbeitgebenden, Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen und dem Staat. Was wir schützen wollen sind Inhalte wie politische Einstellung, sexuelle Orientierung und gesundheitliche Daten.
Fazit: Je weiter eine andere Person vom persönlichen Umfeld entfernt ist, umso weniger wollen wir die Privatsphäre mit jener Person teilen. Die Privatsphäre wird genutzt, um sich vor den Nächsten zu schützen.

Welcher Privatsphäre-Typ bist du?

Im Unterricht durften wir ein Online-Assessment zu unserem persönlichen Privatsphären-Verhalten (Sorgen um die eigene Privatsphäre versus Schutz der privaten Daten) durchführen. Bin ich konform, vorsichtig, unbekümmert oder inkonsequent? Das Resultat widerspiegelte den eigenen Privatsphären-Typ im Vergleich zur Schweizer Bevölkerung. Nachfolgend ein Beispiel einer Person zur Illustration:

Welcher Privatshpäre-Typ bist du?

Ergebnis aus dem Online-Assessment der ETH (vom 24.04.2020). Folie von Sarah Genner.

Das OCEAN-Modell hat nichts mit dem Meer zu tun..

Das Ocean-Modell aus der Persönlichkeitspsychologie beschreibt das «Big Five Factor»-Modell. Es wird auch als OCEAN-Modell bezeichnet (nach den entsprechenden Anfangsbuchstaben Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness, Neuroticism). Je nach Typ verhalten wir uns mit den Online-Fähigkeiten im Internet unterschiedlich. Beispielsweise haben Personen, die facebook nicht mehr nutzen wollen, einen höheren Gewissenhaftigkeit-Anteil (Conscientiousness).

Der Streisand-Effekt

Eine interessante Seite der Handhabung von Privatsphäre lernten wir am Beispiel der Schauspielerin und Sängerin Barbra Streisand kennen. Als Streisand-Effekt wird ein Phänomen bezeichnet, wonach der Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken oder entfernen zu lassen, öffentliche Aufmerksamkeit nach sich zieht. Dadurch wird das Gegenteil erreicht und die Information einem noch grösseren Personenkreis bekannt gemacht. Barbara Streisand wollte eine Luftaufnahme ihres Hauses am Strand auf einer Website entfernen lassen. So stellte sie erst die Verbindung zwischen sich und dem abgebildeten Gebäude her, woraufhin sich das Foto nach dem Schneeballprinzip im Internet verbreitete. Der Fotograf argumentierte, er habe den Strand nur fotografiert, um die Küstenerosion zu dokumentieren.

Presse und Privatsphäre

Beide Bereiche haben eine lange gemeinsame Vergangenheit, die ihren Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte. Samuel D. Warren und Louis D. Brandeis stellten in ihrem Artikel im Harvard Law Review vom 15. Dezember 1890 fest, dass die Schlagzeilen nicht länger eine Sache von unehrenhaften Personen sei, sondern dass ein neues Geschäftsmodell daraus entstehen würde. «The press is overstepping in every direction the obvious bounds of propriety and of decency. Gossip is no longer the resource of the idle and of the vicious, but has become a trade.»

Heinrich Böll nahm dieses Spannungsfeld im Buch von «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» auf. Er beschriebt, was für ein Schaden aus einer menschenverachtenden Berichterstattung der Boulevardpresse entstehen kann.

Weitere Beispiele streiften wir im Verlauf der Diskussion. Zu nennen sind Organisationen wie #NetzCourage oder Personen wie Richard Gutjahr, die sich mit der Verletzung der Privatsphäre auseinander setzen und sich konkret für die Rechte der Privatsphäre investieren und kämpfen. Das bisherige Verhalten des Aussitzen und passive Abwarten bis der Sturm vorbei geht, scheint in der heutigen digitalen Zeit nicht mehr die richtige Strategie zu sein.

Digital Ethics: Privacy by Design

Wie sollen Massnahmen aus der Sicht der digitalen Ethik und der Privatsphäre definiert werden? Im neuen Datenschutz-Gesetz DSGVO (Artikel 25) wie auch dem Datenschutz-Gesetz in der Schweiz (in Revision), wird dem Aspekt der Gestaltung von Technik und Prozesse Rechnung getragen. Folglich kann die Wahrung der Privatsphäre durch Privacy by Design am besten eingehalten werden. Dies müsse bereits bei der Erarbeitung und Entwicklung bei Datenverarbeitungsvorgängen stattfinden.

Ein fundamentales Dilemma

Privacy by Design kann mit dem lukrativen Datengeschäft kollidieren. Ein Ziel, das nicht einfach zu erreichen ist. Ein Unternehmen wird nicht immer für die Kunden sein! Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff zeichnet ein unmissverständliches Bild der neuen Märkte, auf denen Menschen nur noch Quelle eines kostenlosen Rohstoffs sind. Die Menschen sind die Lieferanten von Verhaltensdaten. Unternehmen können oder wollen sich aus den sich ergebenden verlockenden Möglichkeiten nicht entziehen.

Kultur und Gesetze

Wie sollen die Gesetze zum Schutz der Privatsphäre durchgesetzt werden? Haben wir heute nicht fundamentale Kulturunterschiede auf dem Globus? Das Verständnis von Privatsphäre und Überwachung ist in Europa klar anders als in Asien oder Amerika. Kulturelle Differenzen machen es schwierig, Standards durchzusetzen. Beim Datenschutz wird die DSGVO als Zensur aus Sicht der Amerikaner wahrgenommen (Artikel 1 der Verfassung). In Europa haben wir viel Erfahrung mit totalitären Systemen und ein grösseres Bedürfnis für Schutz. Einzelpersonen gehen in den USA zahlenmässig gesehen stärker in der Masse unter. Diesen Umstand scheinen die Amerikaner gemäss unserer Dozentin in persönlichen Gesprächen nicht nachvollziehen zu können.

Was wir mitnehmen

  • Menschen wünschen sich Privatsphäre, definieren sie je nach Kontext anders.
  • Je nach Kontext wünscht man sich Privatsphäre vor jemand anderem: den Arbeitgebenden, der Partner/des Partners, von Strafverfolgungsbehörden, Unternehmen oder bestimmten Personen aus der Vergangenheit.
  • Da andere Personen legitime Bedürfnisse haben, verhalten sich viele Menschen widersprüchlich. Sehen und gesehen zu werden fördert dieses Verhalten.
  • Daten gelten als besonders wertvoll in der aktuellen globalen Wirtschaft.
  • Aus ethischer Sicht ist klar: Privacy by Design muss für digitale Anwendungen gelten. Dies steht im klaren Widerspruch ökonomischer Anreize.
  • Vermutlich kann Privatsphäre nur rechtlich (und mit entsprechenden Sanktionen) durchgesetzt werden, wie auch durch ethisches Verhalten. Das sind global gesehen grosse Herausforderungen.

 

Dieser Blogbeitrag wurde von einem Studierenden verfasst und beinhaltet subjektive Eindrücke, eigene Darstellungen und Ergänzungen.

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